44 Die gesamte Nachbarschaft von Iwan Trifonowitsch nahm mittlerweile Anteil an unserem Briefwechsel, wie er im Oktober 2003 mitteilte: »Wenn ich einen Brief von Ihnen bekommen habe, dann weiß davon das ganze Dorf. Und wenn ich im Zentrum bin, dann werde ich gefragt, ob ich Neu- igkeiten über die Auszahlung der Entschädigung habe. Und ich antworte: ›Nichts Neues‹. Morgen werde ich diesen Brief zur Post bringen, dann kom- men wieder die Fragen.« Im Juni 2004 schrieb Iwan Trifonowitsch: »In diesem Monat im Jahr 1941 um vier Uhr morgens wurde die Sowjetunion vom faschistischen Deutschland angegriffen. Es begann die schlimmste Zeit für Millionen von Menschen.« Im August 2004 dann eine freudige Nachricht: »Ich möchte Ihnen mitteilen, dass ich am 23. Juli 2004 die zweite Rate der Entschädigung bekommen habe« – gefolgt von einem kurzen Bericht über die Lage im Ge- müsegarten: »In einigen Gebieten bei uns gab es Unwetter: Viele Menschen haben darunter gelitten und die Ernte verloren. Wir hatten Starkregen und Hagel: Jetzt werden die Tomaten und Zwiebeln schwarz und gehen ein.« Schon häufiger hatten wir uns über die Ernteerfolge in unseren Gärten aus- getauscht – mit einem gravierenden Unterschied: Für mich ist das Gärtnern Hobby, für die Menschen in der Ukraine häufig ein unverzichtbares Mittel zum Überleben. Missernten und Unwetter bedeuten im schlimmsten Fall Hunger im Winter. Ende 2004 ging Iwan Trifonowitsch erstmals auf die politische Situation in der Ukraine ein: Nach der Stichwahl bei der Präsidentschaftswahl im No- vember 2004, die angeblich der russlandfreundliche Wiktor Janukowitsch gewonnen hatte, war es zu landesweiten Protesten gegen Wahlfälschungen gekommen, die zu der Orangenen Revolution geführt hatten. Die Wie- derholung der Stichwahl im Dezember 2004 hatte der westlich orientierte Wiktor Juschtschenko für sich entschieden. Der Konflikt in der Ukraine zwischen dem russlandfreundlichen Lager einerseits und dem westlich ori- entierten Lager andererseits ist auch zehn Jahre später noch virulent. Iwan Trifonowitschs Meinung spiegelte die unreflektierte Darstellung der rus- sischen Sichtweise wider. Die politische Lage beunruhigte ihn sehr. »Man weiß nicht, was uns erwartet«, schrieb er im Dezember 2004. Im nächsten Brief äußerte er seine Gefühle angesichts der Unruhen und der wiederhol- ten Präsidentschaftsstichwahl am 26. Dezember. »Bei uns sind so viele Be- obachter, dass es einem schlecht wird. Sie kommen aus dem Westen und Amerika […]. Ich glaube nicht, dass es friedliche Beobachter sind. Es sind Sklaventreiber, es sind Menschen, die aus uns eine Kolonie machen wol- len. […] Die Situation bei uns im Lande ist instabil, die Preise für die Le- bensmittel sind gestiegen. Die Menschen kaufen alles auf Vorrat, sie haben Angst.« Politische Themen waren immer eine Gratwanderung und es fiel uns schwer, auf solche Worte zu reagieren; immerhin hofften wir durch die Orangene Revolution auf eine Öffnung der Ukraine. Schließlich beschränk-