VIELFALT Leben 12/2023
Über seine Band hinaus initiierte Mischa Gohlke zudem den gemeinnützi- gen Verein Grenzen sind relativ e. V., der mit Projekten, Veranstaltungen und Kampagnen Menschen verschiedener Backgrounds zusammenbringt und sich für eine multipolare Gesellschaftskultur einsetzt. „Vor Jahren haben wir den Kampagnensong ‚Anderssein vereint‘ veröffentlicht, der ein großes Echo frei- gesetzt hat. Im kommenden Jahr wollen wir eine neue Musikvideo-Kampagne zusammen mit vielen anderen Künstlern realisieren“, berichtet Gohlke. Ab April 2024 geht es auch wieder los mit Konzer- ten, worauf sich Mischa Gohlke besonders freut: „Wenn ich viel spiele, sei es live, im Proberaum oder zu Hause, dann verbessert sich auch meine Hörwahrnehmung. Es gibt Momente, in denen ich eine ganzheitliche Hörwahrnehmung rekonstruieren kann und manchmal höre ich nur Klangbrei. Wenn ich wenig spiele oder eine stressige Woche hinter mir liegt, dann färbt das auch auf meine Hörwahrnehmung ab. Wie in vielen anderen Lebensbereichen braucht es Raum, Zeit und eine prozessorientierte Offenheit, um sich weiterzuentwickeln und im Hier und Jetzt den Flow geschehen lassen zu können. Musik ist ein wunderba- res Medium dafür.“ Kurz vor Ende des Jahres 2023 hat Gohlkes Band noch eine kleine Überra- schung: „Am 9. Dezember spielen wir im Zwick St. Pauli auf dem Jahresabschluss- konzert des Vereins ,Grenzen sind relativ’. Der Eintritt ist frei und wir freuen uns bereits sehr auf die multipolare Melange, die wir zusammen kreieren werden.“ www.mischagohlkeband.de Bowen, dass eine Sprache ohne Worte manchmal die beste Therapie und außer- dem ein guter Spiegel für verschiedene Pro- zesse ist. „Wir können alle auf Augenhöhe von und miteinander lernen“, so Gohlke. Auch wenn er Inklusionsbotschafter ist, stößt Mischa Gohlke sich an dem Wort „Inklusion“. „Ich finde, das Wort ist mittlerweile etwas verbrannt, weil viele Menschen damit lediglich die Integration von Menschen mit formal anerkannter Behinderung verknüpfen. Letztlich sind wir alle behindert. Ob körperlicher, mentaler, sozialer, emotionaler, empathi- scher, finanzieller oder struktureller Natur. Im Sinne der Dialektik haben wir alle das Begrenzte und Grenzenlose in uns. Dazu gibt es viele gesellschaftliche und politische Behinderungen und existenzielle Allge- meingüter wie Bildung, Kultur, Arbeit, Nahrungsmittel, Gesundheit und Wohnen. Diese sollten für alle Menschen auf diesem Planeten zugänglich sein. Dabei geht es natürlich auch um die Verteilung von Geld, Macht und Einfluss und die Frage, wie wir Demokratie leben wollen. Für mich ist Inklusion keine Spezialkonvention, sondern die Konkretisierung der uni versellen Menschenrechte. Das umfasst alle Themen und Prozesse, die eine komplexe, multipolare Gesellschaft ausmachen. Zu Ende gedachte und gelebte Inklusion kollidiert mit unserem derzeitigen neoliberalen Gesellschaftsmodell.“ Damit nennt Gohlke einen wichtigen Punkt und ergänzt: „Es ist nicht zielführend, wenn wir uns in verschiedene Gruppen separieren und uns mit diesen ausschließlich identi- fizieren. Das ist eher spaltend und wider- spricht dem inklusiven Gedanken. Letztlich konkurrieren die vielen separaten Gruppen miteinander, wenn es um Öffentlichkeit, Geld und politischen Einfluss geht. Der Kuchen ist halt begrenzt. Es braucht Systeme und Strukturen, die wirklich für und mit allen Menschen sind beziehungsweise für die 99 Prozent und nicht nur für einige wenige Privilegierte. Zu Zeiten der Kategorisierungen und Spaltung brauchen wir Inklusion statt Separation, Kooperation statt Konkurrenz, Dialog und Miteinander und gelebten Frieden für alle Menschen auf diesem Planeten.“ Eigenkompositionen aus Genres wie Blues-, Funk-, Rock- und Pop- Elementen sowie einige Tribute to Stevie Ray Vaughan und Jimi Hendrix Songs fließen in der Musik zusammen, die die Mischa Gohlke Band bereits auf zahlreichen Veranstaltun- gen und Festivals spielte, darunter die Kieler Woche, Konzerte im Millerntor- Stadion, im Volksparkstadion und in der Fabrik. Bowen auf die Frage, welche Rolle Gohlkes Hörbehinderung Hörbeeinträch tigung im Band-Alltag spielt: „Jeder Band, jedem Musiker passieren Fehler. Aber besonders in unserem Fall brauchen wir einen genauen Plan, einen Ablauf, was zu machen ist, wenn Fehler passieren. Wenn ein Fehler passiert, höre ich das. Bei Mischa ist das manchmal anders. Man muss flexibel sein und versuchen, jedes Bandmitglied irgendwie mit ins Boot zu holen.“ Begleitet wird die Band stets von einem enormen Medienecho. Sender wie der NDR, das ZDF und die ARD berichten immer wieder über Neuigkeiten und Live-Shows. Die Mischa Gohlke Band ist außerdem an Schulen und Universitäten in Form von Workshops tätig, um einen Raum für Musik und Begegnung zu schaffen und über gesamtgesellschaftliche Inklusion im kulturellen Bereich aufzu klären. Vor allem geht es einfach um Musik. Die Arbeit ist hierbei ganz indivi- duell und auf den Bedarf der jeweiligen Institution abgestimmt, denn ein Patent- rezept für den Umgang mit Menschen mit und ohne Behinderungen gibt es nicht. FOTO: MARIE TABUENA Auf der Live-Bühne: die Mischa Gohlke Band Manchmal höre ich alles, manchmal höre ich nichts Mischa Gohlke „ 6 | MISCHA GOHLKE ? Joern, das Jugendmusikzentrum Trocken- dock besteht seit 1979, seit wann gibt es inklusive Angebote für Kinder und Jugendliche? Joern Beneke: Die gab es immer schon. Ich bin seit 2005 hier, damals gab es einen Jugendlichen im Rollstuhl, der Bassunterricht hatte. Etwas später hatten wir über sehr viele Jahre eine Band, die komplett aus Menschen mit Handicap bestand. Diese Band hieß SSPiiS, eine tolle Band, die sich leider irgendwann aufgelöst hat. SSPiiS wohnten alle in betreuten Wohngemeinschaften in Hamburg und kamen als feste Band zu uns. Die waren unheimlich kreativ, das fand ich sehr beeindruckend. Und aktuell? Momentan haben wir eine junge Rollstuhlfah rerin im Gesangsunterricht und ein junges Sozialpädagoge Joern Beneke Jugendmusikzentrum Trockendock Im Trockendock können Musiker mit und ohne Behinderung ein Instrument lernen, Proberäume nutzen und auf der Bühne stehen. Sozialpädagoge Joern Beneke arbeitet an einem Ort, der zu den Fixpunkten für kreative Jugendliche in Hamburg gehört ◗ Interview: Matthias Greulich „Alles passiert hier spie- lerisch“ TROCKENDOCK | 7 FOTO: MATTHIAS GREULICH
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