VIELFALT Leben 06/2024

noch keine Beteiligung. Im Bürgerrat Ernährung gibt es sehr interessante Ergebnisse, wie ich persönlich finde, die mir auch konsensfähig scheinen. Jetzt wird sich aber entscheiden, was der Bundestag damit anfängt. Wenn der einfach nur sagt: Danke fürs Gespräch und die Ergebnisse wegschließt, dann war das am Ende vielleicht im Prozess etwas Schönes, vom schriftlichen Ergebnis her etwas Gutes. Aber es hat sich nicht im politischen Handeln oder in Gesetzgebung niederge- schlagen. Und das ist was, was in der Beteiligung häufig passiert und was dann forum hat sich vorher mit dieser Frage befasst, die Argumente wurden ausge- tauscht. Zusätzlich gab es einen Bürgerent- scheid, mit dem Ergebnis, dass tatsächlich am Ende mehrheitlich zugestimmt wurde und es nicht die Gemeinschaft dort zerlegt hat. Auch die, die dagegen waren, konnten am Ende mit dem Ergebnis leben. Wie bewerten Sie den Bürgerrat Ernährung? Ein schönes Beispiel. Ich sage immer, Beteiligung ist Dialog mit Wirkungsan- spruch. Nicht mit Wirkungsgarantie, aber -anspruch. Nur über etwas zu reden, ist Eine Frage, die Jörg Sommer thematisiert: „Wie reif ist Deutschland für direkte Demokratie?“ FOTO: TANEA SOMMER 6 | JÖRG SOMMER sche, die auch viele Vorteile hat. Sie hat aber einen Nachteil: Es ist immer eine binäre Entscheidung zwischen Ja oder Nein. Es gibt kein gemeinsames Abwägen von Alternativen. Das passiert, wenn überhaupt, im Vorfeld. Dadurch hat sie auch ein gewisses Spaltungspotenzial. In Kulturen wie zum Beispiel der Schweiz, die, wie wir wissen, sehr direktdemokra- tisch unterwegs ist, selbst da ist es zu spüren. Wie reif ist Deutschland für direkte Demokratie? Es gibt einen Kanton in der Schweiz, da werden die direkten Abstim- mungen nicht schriftlich gemacht, sondern da treffen sich alle Wahlbürger auf dem Sportplatz. Wie weisen die dort nach, dass sie stimmberechtigt sind? Nicht mit ihrem Personalausweis, sondern sie bekommen als Schweizer Bürger, wenn sie volljährig sind, in diesem Kanton einen Degen. Den nehmen sie mit auf den Sportplatz, und dann wird abgestimmt. Und wer dafür ist, hält den Degen hoch, und wer dagegen ist, lässt ihn unten. Jetzt stellen Sie sich das mal in manch einer deutschen Kommune vor. Wenn bei einemThema wie dem Bau eines Flüchtlingswohnheims sich die Leute auf dem Sportplatz treffen würden und jeder hätte einen Degen dabei. Wie spricht man die Leute am besten an? Den Degen kann man ja nicht verschicken. Man muss dahin gehen, wo die Menschen sind. Das kann im digitalen Raum sein. Kann bei Tiktok sein, wenn man junge Menschen erreichen will. Im analogen Raum bedeutet das wirklich, an den Türen zu klingeln. Das ist die sogenannte aufsuchende Beteiligung. Das heißt zum Beispiel, nach dem Freitagsgebet in den muslimischen Kulturverein zu gehen, natürlich in Absprache mit den dortigen Funktionsträgern, und dort Beteiligungs- prozesse zu organisieren. www.bipar.de auch zu kritisieren ist. Menschen machen so einen Prozess einmal mit, vielleicht noch ein zweites Mal, wenn sie dann den Eindruck haben, mit den Ergebnissen wird nicht gearbeitet, haben sie keine Lust mehr. Warum werden diese Meinungen ignoriert? Ehrliche und offene Beteiligung zu machen, bedeutet natürlich auch für die Menschen, die entweder in der Verwaltung oder in der Politik Macht haben, ein Stück weit auch von der Macht loszulassen. Das ist etwas, was jedem Menschen schwerfällt. Sie werden ja auch nicht zufällig Politiker, da müssen sie hart für arbeiten, dass sie in ein Parlament kommen. Da möchten sie natürlich auch gestalten, und dann wieder mit den Wählerinnen und Wählern neu in Debatten einzusteigen, bedarf es ein biss- chen Überwindung. Welche Rahmenbedingungen müssen insbesondere für deliberative und kolla­ borative Verfahren geschaffen werden, damit Teilhabe gelingen kann und welcher Beteiligungskultur bedarf es, damit politische Partizipation gelingen kann? Es braucht Ressourcen. Das bedeutet nicht nur Geld. Das bedeutet auch Räume. Das bedeutet auch Zeit, die man einem Prozess lassen muss. Und als Ressource gilt auch Information. Der, der beteiligt, muss es nicht nur zulassen, er muss ein Interesse haben, dass die Beteiligung Wirkung hat. Wir dürfen Beteiligung nicht als Instru- ment zur Akzeptanz denken. Sondern tatsächlich ist Beteiligung ein Instrument zur Emanzipation. Das ist ein Begriff, den nicht jeder in der Politik gerne hört. Aber darum geht es. Wenn wir die Demokratie stärken wollen, dann muss es wieder unsere Demokratie werden, und da muss es mehr Menschen geben, die in der Demokratie und mit der Demokratie positive Erfahrung gemacht haben und sie deshalb auch wirklich mögen. In Hamburg gibt es ja auch einige Volksentscheide, die zu demThema angeregt werden. Inwieweit kann das helfen? Wir sprechen gerne immer von der sogenannten vielfältigen Demokratie, damit ist die Vielfalt auch der Prozesse gemeint. Im Grunde sind es drei Säulen. In Deutschland ist die repräsentative Demokratie sehr stark. Ohne die kommen wir auch nicht aus, unpopuläre Entschei- dungen müssen manchmal schon getroffen werden. Dann haben wir die dialogische Säule, die ich gerade angesprochen habe, und dann hat man die direktdemokrati- Wir dürfen Beteiligung nicht als Instrument zur Akzeptanz denken Jörg Sommer „ JÖRG SOMMER | 7

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