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Hamburg macht Schule 4|2010 3 Editorial 85-jährig räsoniert der argentinische Dichter und Philosoph Jorge Luis Borges: »Ich war einer dieser klugen Menschen, die jede Minute ihres Lebens fruchtbar verbrachten; freilich hatte ich auch Momente der Freude, aber wenn ich noch einmal anfangen könnte, würde ich versuchen, nur mehr gute Augenblicke zu haben. Falls Du es noch nicht weißt, aus diesen besteht nämlich das Leben; nur aus Augenblicken; vergiss nicht den jetzigen.« Neben den Insignien des materiellen Wohlstands, so der Zeitforscher Karlheinz Geißler, kümmern wir uns zu wenig um solche erfüllten Momente, deren Summe er »Zeitwohlstand« nennt. Dieser existiere »in einer Gesellschaft, in der sogar die Nasen mit Tempo geputzt werden, meist nur mehr als schöne Hoffnung.« Sten Nadolnys »Entdeckung der Langsamkeit« konnte so zum Bestseller einer gestressten Generation werden. Natürlich war auch auf diesem Feld die Spürnase unseres Dichterfürsten ihrer Zeit voraus. Von Goe- the stammt die Wortschöpfung »veloziferisch« als Verschränkung von Velocitas (Eile) und Luzifer. Eine seiner späten Lektüren war im Februar 1832 die Schilderung einer Eisenbahnreise von Liverpool nach Manchester. In einem Brief an König Ludwig I. schreibt er: »Einer eingepackten Ware gleich schießt der Mensch durch die Landschaften. Länder lernt er keine mehr kennen. Der Duft der Pflaume ist weg.« Ganz nebenbei und zum Trost gesagt: Der Deutschen Bahn AG gelingt es zunehmend – insbesondere im Sommer und im Winter –, ihren Reisenden beim Warten auf Bahnhöfen oder in stehenden Zügen Zeit zu verschaffen. Neuerdings wird diese sogar vergütet, time is money. Auch die Schulzeit besteht aus unzähligen Augenblicken und mehr als 12000 Stunden bis zum mittleren Abschluss – und sie besteht aus Zeitdruck und Muße, aus Anregung und Monotonie, aus aktiver Lernzeit und mentaler Absenz, in jedem Fall ist sie Lebenszeit von Schülerinnen und Schülern und Lehrkräften. Wie viel davon ist dem Vorratslernen gewidmet? Wie viel Schülerinteressen fließen ein? Wie viel Eigenzeit, abhängig vom jeweiligen Individuum, von sozialen Milieus und Herkunftskulturen, wird dem Einzelnen zugebilligt? Bis zu welchem Grad kann man die Zeitbestimmung des Lernens den Schülerinnen und Schü- lern selbst überlassen? Welche Methoden und Arrangements sind dafür erforderlich? Und welche Kompe- tenzen und Haltungen bei den Schülern? Wie verfährt man bei Störungen im Unterrichtsbetrieb, wenn es möglichst inklusiv zugehen soll und gleichzeitig die Lernwilligen vor den Zeiträubern zu schützen sind? Die Antwort von Wolfgang Edelstein, dem ehemaligen Direktor am Max-Planck-Institut für Bildungsfor- schung, ist eher eine Forderung: »Eine entwicklungsgerechte Schule muss Zeit und Raum für Variabilität der Lern- und Entwicklungsprozesse, Individualisierung, Ungleichzeitigkeit, konstruktive und kooperative Lernprozesse und Beratung von Lernwegen durch die Lehrpersonen zulassen.« Wie das geschehen könnte und wie das Thema Zeit selbst zum Lern- und Reflexionsgegenstand wird, ist The- ma der Einführung von Wolfgang Steiner und der schulischen Erfahrungsberichte. So viel ist sicher und empirisch nachgewiesen: Tatsächlich genutzte Lernzeit – time on task – gehört zu den wichtigsten Kriterien für Unterrichtsqualität. Dazu braucht es anspruchsvolle Aufgaben, motivierte Schüler und aktivierende Lehrer. Also keine Osterhasen-Didaktik: Der Lehrer versteckt das Ei, die Schüler suchen, und wer es als Erster findet, hat gewonnen. A propos »Zeitwohlstand« bzw. Ruhestand: Dies ist – nach 22 Jahren – mein letztes Editorial. Feedback wird noch gerne an- genommen. Der Zeitstrahl aber richtet sich nach vorn – für Sie das Beste! peter.daschner@hamburg.de